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Stadtrat Dr. Bernd Heidenreich sprach am 26.01.2019 zum Karlsamt 2019

“Das Europa der Gegenwart braucht Visionäre wie Karl den Großen”

Aus Anlass des traditionellen Karlsamtes hat Stadtrat Dr. Bernd Heidenreich (CDU) die Bedeutung Karls des Großen für die kulturellen und ethischen Grundlagen des europäischen Hauses und für das christliche Verständnis politischer Herrschaft gewürdigt. Ferner hob er die Rolle von Persönlichkeiten mit Ideen und Visionen bei der Bewältigung der gegenwärtigen politischen Krise hervor. Heidenreich rief dazu auf, die europäische Idee einer übergreifenden Friedensordnung und Wertegemeinschaft mit neuem Leben zu erfüllen und vor allem die junge Generation dafür zu begeistern.

Einige seiner Gedanken geben wir nachfolgend wieder:

Wir gedenken heute im Karlsamt nach mehr als 1200 Jahren eines fränkischen Königs, den die Historiker den “Großen”, die Politiker den “Vater Europas” und die Katholiken einen “Heiligen” nennen.

Kommen ihm diese Ehrennamen überhaupt zu und welche Relevanz gewinnen sie für unsere Gegenwart?

Das Karlsamt gibt uns in jedem Jahr Gelegenheit, diese Fragen neu zu bedenken.

Historische Größe kann, muss aber nicht mit geistiger und menschlicher Größe verbunden sein. Sie erwächst nicht selten aus dem Kriegsruhm, aber sie beschränkt sich nicht darauf. Neben Willensstärke und Mut sind es vor allem Besonnenheit, Augenmaß und Einsicht in das Machbare und Zumutbare, auf die sich historische Größe gründet.

Karl der Große besaß alle diese Tugenden in überreichem Maße.

Das entscheidende Kriterium für historische Größe bleibt jedoch die Wirkung einer historischen Persönlichkeit, die Nachhaltigkeit, mit der ein Individuum die Welt über seinen Tod hinaus gestaltet. Solche Nachhaltigkeit lässt sich allerdings nicht allein mit militärischen oder politischen Erfolgen erzielen, sie setzt vielmehr eine Idee voraus, eine Vision, die das Leben der Menschen über einen langen Zeitraum verändert.

Was war die Idee Karls, die seinen Anspruch auf historische Größe begründet?

Die Antwort auf diese Frage finden wir nicht in Frankfurt oder in Aachen, sondern in Rom. Wer dort die Porta Mediana des Petersdoms passiert, der befindet sich auf historischem Boden. Er steht auf jener Porphyrplatte, einer Spolie aus Alt-St. Peter, auf der der Frankenkönig Karl am Weihnachtstag des Jahres 800 von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt wurde.

Mit diesem Ereignis wurde Weltgeschichte geschrieben.

Denn das unter christlichen Vorzeichen erneuerte römische Kaisertum bildete das schützende Dach, unter dem es gelang, aus den Trümmern der Spätantike und der Völkerwanderung ein europäisches Haus zu errichten, die unterschiedlichen Völker und Stämme zu einer europäischen Friedensordnung zusammen zu führen, das Bildungsgut der Antike zu sammeln und schließlich jene Kultur Europas zu formen, die bis heute unser Denken bestimmt, unser soziales und politisches Zusammenleben prägt und unseren ethischen Maßstäben zugrunde liegt.

Dieses Haus Europa steht noch heute. Es ruht auf den Säulen der griechischen Philosophie, des römischen Rechts und des christlichen Glaubens. Zwei Weltkriege und zwei Diktaturen haben es schwer beschädigen, aber nicht zerstören können. Denn sein Grundriss ist der vernunftbegabte, mit unantastbarer Würde ausgestattete Mensch, der zur Freiheit berufen ist, wie ihn unser Grundgesetz beschreibt.

Sicherlich war das alles nicht die alleinige Leistung Karls. Aber es war doch die von ihm mitentwickelte und in seinem Lebenswerk ausgestaltete Idee eines christlichen Kaisertums, die über ein Jahrtausend Bestand hatte. Sie wirkt durch die unter ihrem Schirm zusammengeführten geistigen, kulturellen und ethischen Grundlagen Europas bis in unsere Zeit.

Deshalb dürfen wir Karl mit Recht einen “Großen” nennen.

Auch die Europäische Gemeinschaft der Gegenwart braucht Ideen und Visionen, will sie nicht im Management ihrer hausgemachten Krisen, in der Arroganz und Lebensferne einer um sich selbst kreisenden Bürokratie und im kleinlichen Gezänk über den ökonomischen Vorteil und die nationalen Egoismen ihrer Mitgliedsstaaten untergehen.

Vor allem aber braucht sie immer wieder politische Persönlichkeiten, die die Fähigkeit und das Charisma besitzen, Menschen davon zu überzeugen, dass Europa mehr ist als die Summe seiner wirtschaftlichen und nationalen Sonderinteressen.

Die Schicksalsfrage der europäischen Gemeinschaft ist jedenfalls nicht der Brexit der Briten, das Haushaltsproblem der Griechen und Italiener und auch nicht die Verteilung der Flüchtlinge, sondern unsere Fähigkeit und Bereitschaft, die europäische Idee einer übergreifenden Friedensordnung und Wertegemeinschaft mit neuem Leben zu erfüllen und vor allem die junge Generation dafür zu gewinnen.

Die historische Leistung Karls des Großen kann uns dabei Mut machen. Denn sie beweist, dass Europa nicht von seinen Buchhaltern, sondern von seinen Visionären lebt.

So wird Karl auch künftig zu den Vätern Europas gezählt werden. Aber dürfen wir ihn auch einen Heiligen nennen oder war er am Ende doch nur ein “Scheinheiliger”?

Am 29. Dezember 1165 wurden seine Gebeine von Kaiser Friedrich Barbarossa zur Ehre der Altäre erhoben und Karl mit Zustimmung von Papst Paschalis III. heilig gesprochen – “zum Ruhme Christi und zur Festigung des Reiches”, wie es in den Quellen heißt. Abgesehen von der Mitwirkung eines Gegenpapstes, war es demnach ein Kaiser und nicht die Kirche, die seine Heiligsprechung anstieß und durchsetzte.
Karl der Große war deshalb von Anfang an ein politischer Heiliger.

Schwerer als die formalen Mängel wiegen die Bedenken gegen die Mittel seiner Politik und gegen seine persönliche Lebensführung:
Das dunkle Schicksal seiner Neffen, das Blutbad von Verden, die Verbreitung des Christentums mit Feuer und Schwert – stellen wir uns so einen Heiligen vor? Ganz zu schweigen von der zweistelligen Zahl seiner Nebenfrauen, bei denen selbst der geübte Historiker manchmal den Überblick verliert!

Trotz solcher Zweifel und Bedenken haben die Gläubigen über Jahrhunderte an der Verehrung Karls des Großen festgehalten – vor allem in Frankfurt und Aachen, aber nicht zuletzt auch in Frankreich.

Die katholische Kirche hat diese Glaubenszeugnisse respektiert und verehrt Karl bis in die Gegenwart als einen Seligen.

Ich meine zu Recht. Denn bei der Beurteilung Karls des Großen müssen wir stets die Zeitumstände und den kulturellen Kontext mitbedenken, in denen er lebte.

Ein Herrscher des Mittelalters kann jedenfalls niemals in allen Aspekten seines Lebens und Handelns unseren ethischen Maßstäben entsprechen. Im übrigen haben auch weniger umstrittene Heilige nicht in allen Phasen ihrer Biographie und vermutlich auch nicht in jeder Hinsicht ein heiliges Leben geführt.

Für einen politischen Heiligen kommt es aber vor allem darauf an, wie er in seinem Leben und Wirken das Spannungsverhältnis von Glaube und Politik gestaltet hat – und in diesem entscheidenden Punkt ist Karl in der Tat bis heute beispielhaft.

Karl der Große war ein machtbewusster Politiker, der rücksichtslos die Interessen des Reiches zu wahren wusste und seine Gegner gewaltsam niederrang. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er dabei im Sattel. Das Schwert wusste er besser zu führen als Griffel und Gänsekiel – ein Bildungsreformer, der nicht einmal schreiben konnte.

Doch er erlag nicht der Versuchung, die persönliche Macht und das eigene politische Wollen zur letzten Instanz der Geschichte zu erklären, die Politik über den Glauben und sich selbst über Gott zu stellen. Vielmehr verstand er sich stets als Diener Christi, als Sachverwalter der Kirche und des Glaubens und als Schutzherr der Schwachen und Friedfertigen. Immer blieb er sich dabei bewusst, dass jede politische Herrschaft vor Gott legitimiert und verantwortet werden muss, wenn sie nicht in der Selbstvergötterung des Menschen enden soll.

So besingen ihn die Kaiserlaudes als den “a deo coronatus”, den von Gott gekrönten Kaiser Karl.

So prägte er über mehr als ein Jahrtausend das christlich-europäische Verständnis politischer Herrschaft.

Das Reich Karls des Großen ist untergegangen, Kaiser und Könige haben abgedankt. Aber auch für die Repräsentanten unserer Demokratie gilt, dass die Maßstäbe politischen Handelns nicht willkürlich von ihnen gesetzt werden dürfen. Diese Maßstäbe liegen in der kulturellen Überlieferung Europas und in der “Verantwortung vor Gott und den Menschen”, von der unser Grundgesetz spricht.

Herrschaft bleibt immer Auftrag. Auch in den Demokratien unserer Zeit ist sie verantwortliches Dienen am Nächsten und der Allgemeinheit auf sittlicher Grundlage, nicht aber eitle Selbstinszenierung und hochmütige Demonstration persönlicher Macht. Sie erfordert Demut und menschliche Größe.

Darin kann Karl bis heute Vorbild sein – besonders für die politisch Verantwortlichen der Gegenwart.

Beim Karlsamt wollen wir uns als Bürger die geistigen und ethischen Wurzeln unserer Kultur, die friedensstiftende und versöhnende Kraft Europas und die sittliche Verantwortung politischer Macht bewusst machen. Als Christen aber wollen wir uns am Gedächtnistag des seligen Karl, einem politischen Heiligen, dazu bekennen, dass nicht der Mensch, sondern Gott der Herr der Geschichte ist.

Wo wir ihn aus dem Gedächtnis Europas streichen, da steigen die Dämonen des Nationalismus, des Rassismus und des Extremismus aus ihren Grüften.

Vielleicht war deshalb der Verzicht des Gottesbezugs in der europäischen Verfassung die größere Niederlage Europas als der Brexit der Briten.

Das Beispiel Karls des Großen zeigt:

Europa braucht immer wieder Träume und Visionen – gerade heute, bevor es die Technokraten der Macht zugrunde richten.

Dr. Bernd Heidenreich

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